VON DER SCHWERE GEISTIGER FREIHEIT

„Losgelöst“ nennt Sabine Endres ein Objekt, das sich aus einem dreigeteilten Holzkorpus nach oben hin aufzulösen scheint. Aus filigranen Drähten geformt, heben sich Leiterähnliche Strukturen in die Höhe, die einzelne Holzplättchen tragen und sich schließlich in größerer Anzahl verdichtet in alle Richtungen hin dynamisch verteilen. Endres verfolgt in dieser Arbeit einen Gedanken, der an einen der wichtigsten Vertreter der abstrakten Plastik in Deutschland erinnert: Für Norbert Kricke (1922-1984) bedeutete der Raum in der Plastik immer Freiheit und Auflösung fester architektonischer Formen, wobei die bewegte Linie als wesentliches Mittel eingesetzt wurde, um Immaterialität und Schwerelosigkeit auszudrücken.

Auch Sabine Endres zeigt in allen hier gezeigten Objekten eine durch metallische Linien nach Oben hin strebende Leichtigkeit, die im deutlichen Gegensatz zu den aus hölzernen Objets trouvés bestehenden Basiskörpern stehen. Diese Gegensätze von Massivität und Transparenz versinnbildlichen Stillstand und Bewegung, Erstarrung und Freiheit. In diesem Sinne verwendet sie altes, gebrauchtes Holz und löst es aus seinem bisherigen Kontext und seiner ehemaligen Funktion. Dabei legt Endres die Spuren längst vergangener Zeiten offen und führt die Holzstücke einer neuen Bedeutung zu. Auf diese Weise greift sie Vorhandenes auf, nimmt Rücksicht auf die jeweilige Geschichte, um etwas Neues, Andersartiges zu schaffen: Zerstörung und Wiederaufbau, Vergangenheit und Gegenwart, Zerfall und Erhalt werden nicht nur in der Wahl dieses „gelebten“ Materials sondern bewußt durch dessen künstlerische Umformung widergespiegelt. Die Verwendung von Draht dient hierbei als Verbindung, die so zurückhaltend und unauffällig wie möglich den Holzobjekten größtmögliche Transparenz verschafft. Dabei ähneln die fragil anmutenden Metalldrähte in ihrer Anordnung zugleich an technische Strukturen, die eine Balance von tragenden und schwebenden Ebenen bewirken, in den offenen Raum hineingreifen und zugleich eigene Formen abschließen.

So werden die an Architekturen erinnernden Holzelemente durch die Drähte in einem imaginären Raum luftig fortgesetzt, der durch feine Holzblätter entweder etagenartig unterteilt wird oder sich segelförmig im Winde zu bewegen scheint. Oftmals gibt es gar keine durchgängigen Verbindungen oder Wege zwischen den einzelnen Holzteilen, sondern nur Fragmente von Leitern, Tunneln und Höhlen. Die eigentlichen Verbindungen und Verknüpfungen entstehen vor dem geistigen Auge des Betrachters, bleiben selbst immateriell und unsichtbar. Sabine Endres schafft auf diese Weise nicht nur Sinnbilder geistiger Freiheit, sondern symbolisiert damit auch den mühevollen Weg dahin, der sowohl Befreiung als auch Verantwortung für das eigene Handeln beinhaltet. Darauf nehmen die jeweils zwei Objekte umfassenden Arbeiten auch in ihren Titeln Bezug: So lassen beispielsweise „Fragile Freiheit“ oder „Räume – Gänge – Ebenen“ sprachliche Assoziationen zu, die ihre überzeugende Entsprechung in der künstlerischen Formensprache finden.

Die kubischen Holzteile können sinnbildlich in ihrer Massivität und Undurchlässig für überkommene und veraltete Lebensentwürfe verstanden werden während sie auf geistiger Ebene für den mühsamen Weg der Entwicklung und Einsicht stehen. Imaginäre Räume, Gänge, Ebenen, Türen und Stufen, die schließlich zu Plateaus führen, verdeutlichen das mühevolle Erlangen der Eigenverantwortlichkeit, zu denen niemals gerade und eindeutige Wege hinführen. Geistige Flexibilität und das Streben Neues zu erlernen und starres Denken hinter sich zu lassen, sind wichtige Merkmale dieses Prozesses.
So könnte man den sich auflösenden oberen Teil des eingangs vorgestellten Objekts „Losgelöst“ auch für einen Vogelschwarm halten, der sich bei eingehender Betrachtung als Metapher innerer Befreiung und des Aufbrechens festgefahrener Strukturen interpretieren läßt.

Licht und großzügig wirken die abstrakten Malereien von Sabine Endres. Bewegte Flächen verdichten sich auf der Leinwand zu vereinzelten Gruppen, bündeln sich virtuos zu einem Farbenrausch und werden zuweilen durch zarte Linien miteinander verbunden.
In ganz unterschiedlicher Weise erinnern diese verschiedenartigen Kompositionen an vegetabile Strukturen, Landschaften oder Unterwasserwelten. Sie bleiben aber immer so weit unbestimmbar und bar jeder Interpretation, dass der Betrachter Raum für eigene Assoziationen und Vorstellungen behält. Sie sind Momentaufnahmen künstlerischen Schaffens und sind gänzlich aus dem Wesen der reinen Malerei entstanden.

Wenngleich ihre Bilder oftmals in Werkgruppen entstehen und über die Zeit hinweg deutliche Entwicklungen und Schwerpunkte aufzeigen, arbeitet Sabine Endres mit einem hohem Maß an Spontanität und Zufall. Insofern könnte man von intuitiv-spontaner Malerei sprechen, die eine von jeglicher Intention und Festlegung befreite Kunst sucht.
Ähnlich dem französischen Tachismus, der ab den 1940er Jahren in Paris der informellen Malerei in Deutschland vorausging, finden sich auch in ihren Bildern vielfach Farbflecke bzw. sogenannte taches (la tache franz. für (Farb)fleck). Diese Farbflecken variieren in Form und Größe, in Dichte und Abstraktionsgrad und sind Ergebnis eines völlig freien, intuitiven Malvorgangs.
Dieser von jeglichem Darstellungswillen losgelöste Malgestus ist zugleich von einem gewissen Kalkül begleitet, um die Möglichkeiten der abstrakten Malerei mit unterschiedlichsten Techniken und Materialien immer wieder aufs Neue auszuloten. Sabine Endres gelingt es, eine Balance zwischen dem Bewussten und Unbewussten zu halten.

Collagierte Papierstücke, Zeichnungen, mit dem Pinsel oder Schwamm aufgetragene Farben, die fest oder stark verflüssigt ihre freien Formen bilden, werden Schicht auf Schicht über viele Arbeitsschritte verdichtet, übermalt, nachgezeichnet oder verändert.
Auf diese Weise entwickeln sich über längere Zeiträume nicht vorhersehbare und doch wohlkontrollierte Bildwerke, die eine große Energie und Lebendigkeit entfalten und zugleich harmonische Ruhe ausstrahlen. Dynamische Spuren bilden sich durch herunterlaufende Farben, während sich dicke Farbaufträge durch pastos aufgetragene Flächen verdichten.
Lasierende Übermalungen und feine Linien fügen diese amorphen und gegenstandslosen Motive zu Gesamtbildern, die zuweilen an impressionistische oder japanische Naturlandschaften erinnern: Seerosen, Blüten und Äste, schäumende Wogen oder schneebedeckte Berggipfel scheinen sich schemenhaft aus dem abstrakten Bildgrund zu bilden, ohne wirkliche Gestalt anzunehmen.
Überhaupt vermittelt die Malerei von Sabine Endres trotz aller Abstraktion asiatische Einflüsse, ohne diese konkret anzudeuten oder bewusst benennen zu wollen. Vielmehr ist es die bewegte und zugleich meditative Anmutung, die für ihre Werke charakteristisch ist, die sowohl durch eine kraftvolle als auch sanfte Farbgebung leuchtend und in jeder Hinsicht anregend wirken.

Weitere Informationen zur Künstlerin: www. sabine-endres.de