WEITERGEHEN BEDEUTET, SICH FÜR DAS LEBEN ZU ENTSCHEIDEN.
Bewegung ist für Jette Jertz ein wesentliches Merkmal ihrer Arbeit. Im Sinne einer steten Entwicklung bewegt sie sich als Künstlerin zwischen den Stilen: sei es Abstraktion und Figuration, informelle oder gegenständliche Malerei. Spontanes Experiment und gestisch-konstruktivistische Kompositionen wechseln sich mit durchdachten Bildmotiven ab, die der Realität entnommen sind. Auf diese Weise bereichert Jette Jertz ihre Malerei um die Möglichkeit, aus einem nicht enden wollenden Repertoire von Formen, Motiven und Themen zu schöpfen. Begrenzungen – sowohl in formaler als auch geistiger Hinsicht – sind ihr fremd. Vielmehr gilt es, Neues auszuprobieren und sich jeden Tag aufs Neue inspirieren zu lassen. In ihrer aktuellen Bildserie KEEP ON WALKING ist diese Arbeitsweise zugleich auch bildgebendes Thema geworden.
Bewegung, Laufen, Fahren, Reisen, Migration oder Exil – Menschen haben sich immer wieder auf Wanderschaft begeben, sind mobil, Grenzüberschreitende, Durchreisende und leben nicht selten ein Nomadendasein. Wanderschaften von einem Ort zum anderen schaffen Kontakte, sorgen für kulturellen Transfer, lassen Ideen, Wissen und geistige Strömungen von einem Land zum anderen tragen, bis diese sich oftmals mit den jeweils anderen vermischen. Nicht selten entsteht dadurch Neues. Heute leben Menschen in einer globalisierten Welt mit all ihren Vor- und Nachteilen. Auch die zeitgenössische Kunstproduktion steht im Zeichen des globalen Wandels und ist sowohl Ergebnis als auch Reflexion desselben. Transitorische Zustände prägen vermehrt familiäre und zwischenmenschliche Konstellationen und Lebensformen, prägen zunehmend Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Sie werfen Fragen nach Identität und Individualität, nach Heimat, Fremde und Integration auf, bestimmen den kulturellen Diskurs. Was bedeutet es, die Heimat zu verlassen, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, andere Sprachen zu sprechen? Fühlt man sich nur fremd in der Fremde oder kann man auch fremd im eigenen Land sein?
Jette Jertz sind diese Fragen nicht neu und werden von ihr in ihren Arbeiten immer wieder formuliert. Sie selbst ist seit frühester Kindheit vielfach auf Reisen gewesen und an mehreren Orten in der Welt aufgewachsen. Sie ist Ortswechsel und die Annäherung an andere Kulturen und (zunächst) fremde Menschen durchaus gewohnt. Insofern könnte für sie das künstlerische Statement des französischen Künstlerkollektivs Claire Fontaine „Foreigners everywhere“ eine werkimmanente Bedeutung haben: Jeder kann fremd sein, es kommt nur auf die Perspektive und den jeweiligen Standpunkt der Betrachtung an. Das Fremdsein wäre somit eine conditio humana, eine dem menschlichen Dasein innewohnende Eigenschaft. Mit diesem Postulat würde die Bedeutung der kulturellen und ortsbezogenen Identifikation relativiert und ein Pladoyer für Offenheit, Akzeptanz und Selbstreflexion ausgesprochen werden. Angesichts der Überlegung, dass jeder Mensch, egal welcher Herkunft und finanziellen Situation in die Lage größter Unsicherheit geraten und seines Zuhauses, seiner Heimat beraubt werden kann, lässt die Bilder Jette Jertz‘ allgemeingültig werden. Ohne jedwede Moral oder affirmativen Charakter wirken ihre Motive und Bildthemen auffordernd. Auffordernd im Sinne des Nachdenkens über sich selbst und die eigene Verletzlichkeit angesichts einer sich ständig und rasant verändernden Welt.
So zeigt beispielsweise die Bildserie „Auf der Straße“ eine extreme Perspektive, bei der wir die stark verkürzte Aufsicht auf Beine und Schuhe einer stehenden Person wahrnehmen, als würden wir selbst an uns herunterschauen. Hier wird der gegenteilige Moment des Gehens veranschaulicht: Das Stehen geht dem Gehen voraus. Auch ist das Stehen immer wieder notwendig, um eine Pause einzulegen, um etwa die Richtung zu bestimmen, um innezuhalten. Insofern deutet Jette Jertz gerade in diesen Bildern einen weiteren Aspekt ihres Titels KEEP ON WALKING an: Wer geht, muss eine Richtung einschlagen, muss sich entscheiden, kann oder muss weitergehen, kann oder muss das Tempo und das Ziel bestimmen. Doch angesichts der weltweiten Flüchtlingskatastrophen ist diese Selbstbestimmung nicht mehr gegeben; es gibt keine frei Entscheidung. Nur das Weitergehen mit der Hoffnung auf ein friedliches Ziel scheint die einzig mögliche Option zu sein.
In dem Song von Charles Ives (1874-1954) „Walking“ (1902) heißt es „But we keep on a walking, ‘tis yet not noon-day, the road still calls us onward, today we do not choose to die or to dance, but to live and walk.“ Das Gehen ist hier als aktiver, lebensbejahender Zustand zu verstehen. Das Weitergehen mag nicht unbedingt zielführend sein, doch es verweist auf Veränderung und Zukunft hin, was immer sie bringen mögen. Sie bedeuten immer auch, die Chance auf ein besseres Leben ergreifen zu können, Altes zurückzulassen und neu zu beginnen – und vor allem: weiterzuleben. Wer hingegen stillsteht, kann sich nicht entwickeln und kommt nicht vorwärts, nicht weiter.
Auch in diesem Sinne können die Werke von Jette Jertz verstanden werden: Sie sind neben ihren kritischen Konnotationen auch ein Appell, sich zu bewegen und die damit verbundenen Veränderungen anzunehmen. Ihre kraftvolle Malerei lässt jedenfalls dem Stillstand keinen Raum; zwischen dem vielschichtigen Spiel von Abstraktion und Figuration verleiht Jette Jertz ihren Bildmotiven derart viel Bewegung, dass sie nachhaltige Spuren beim Betrachter hinterlassen.
Weitere Informationen zur Künstlerin: www.jettejertz.de