IN DER NORMALITÄT LIEGT DIE GEFAHR DES VERGESSENS
Hauptstraße 85 a. Wer in Stommeln im Rhein-Erft-Kreis die ehemalige Synagoge besuchen im Jahr 2014 wollte, der konnte seinen Augen nicht trauen. Anstelle des im neoromanischen Stil errichteten Backsteingebäudes des ausgehenden 19. Jahrhunderts stand im Hinterhof ein glatt verputztes zitronengelbes, bieder anmutendes Einfamilienhaus.
Die Tür ist verschlossen. Kunststoffenster, zugezogene Rollos, Garagentor, Briefkasten und der penibel säuberlich gekehrte Vorplatz mit seiner spärlichen Begrünung lassen keinen Zweifel zu: Dies ist kein historisch oder kulturell geprägter Ort. Man muss sich also geirrt haben, ist wohl ein paar Häuser zu weit gegangen. Geht noch einmal zurück in die vorgelagerte Hauptstraße und findet sich vor einem Blumengeschäft wieder. Doch auch hier: Kein Hinweis auf die Synagoge, kein noch so kleines Schild. Ist die Adresse falsch?
Der für seine verstörenden Rauminstallationen bekannte Künstler Gregor Schneider hatte das Gebäude der Synagoge Stommeln verschwinden lassen und in ein stereotyp-deutsches Familienhaus verwandelt. An dem Ort der Erinnerung schien er auf eine Normalität hinzuweisen, wie sie uns überall begegnen könnte. Erschreckend und erdrückend zugleich. Wo zuvor im Giebel der Davidstern zu sehen war, war nur noch frisch renovierte Fassade, ohne Merkmale und Spuren der Vergangenheit. Indem Schneider die Erwartung, einen geschichtsträchtigen Ort vorzufinden, enttäuschte, ja geradezu konterkarierte, schuf er Irritation und eine erschreckend banale Erkenntnis in zweierlei Hinsicht: In der Normalität liegt die Gefahr des Vergessens, und durch die Negierung der Realität kann eine besondere Aufmerksamkeit, ein Anstoß des Nachdenkens geschaffen werden. „In Schneiders Werk erscheint die Synagoge, zum Verschwinden gebracht durch eine normgerechte Renovation, als materielles Analogon des vernichteten jüdischen Volks und seiner verstummten Klagen und Gebete, die sich hier an einen verborgenen Ort gerichtet haben.“ (Ulrich Look) Kunst als Nichtkunst? Kann Alltäglichkeit zur Ausnahme werden? Gregor Schneider schien genau diese Umkehrung von Erwartung und Realität umgesetzt zu haben. Das, was er als nicht mehr vorhanden zu sein vorgab, kehrte als Erinnerung und Störung zurück. Dadurch konnte eine Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen entstehen – und mit ihr die Frage nach dem Kunstwerk selbst.
Gregor Schneider ist einer von 23 weltweit berühmten Künstlern, die der Einladung des Kulturamtes Pulheim-Stommeln gefolgt sind und ein Kunstprojekt für die ehemalige Synagoge erarbeitet haben. Jeweils für die Dauer eines Jahres haben Künstler wie Rosemarie Trockel, Georg Baselitz, Richard Long, Mischa Kuball, Maurizio Cattelan oder Rebecca Horn, um nur einige zu nennen, hier schon Arbeiten entwickelt, die sich der historischen Bedeutung des Ortes angenommen haben. Der für 2014 eingeladene Gregor Schneider hat in der für ihn charakteristischen radikalen Art dem Ort die Erinnerung entzogen, und sie gerade auf diese Weise besonders thematisiert. Mit dem Wunsch, die Erinnerung und das Gedenken an die deutsch-jüdische Vergangenheit wachzuhalten und einen lebendigen Diskurs darüber anzustoßen, hatten der damalige Stadtdirektor der Stadt Pulheim, Karl August Morisse, und maßgeblich der Kulturdezernent Gerhard Dornseifer die Kunstprojekte Synagoge Stommeln 1990 ins Leben gerufen. War doch die Synagoge eine der wenigen in Deutschland, die während der Pogrome von 1938 nicht zerstört wurden. 1937 von der jüdischen Gemeinde in Köln an einen ortsansässigen Landwirt verkauft, konnte sie „dank“ der damaligen Nutzung als Abstellkammer und Viehstall knapp der Vernichtung entgehen. Als schließlich 1979 die Gemeinde Pulheim das in den dazwischen liegenden Jahren verfallene Gebäude erwirbt, beginnt 1981 die Restaurierung und Nutzung für kulturelle Veranstaltungen.
Dem Engagement der damals Verantwortlichen ist es in hohem Maße zu verdanken, dass sich seitdem die Synagoge Stommeln zu einem international vielbeachteten Ort hochkarätiger Installationen entwickelt hat. Jahr für Jahr gelingt es, Künstler von Weltrang für dieses außergewöhnliche Kunstprojekt zu begeistern und sie einzuladen, sich mit einer eigens für den Ort geschaffenen Arbeit zu beteiligen. Die Kuratorin Angelika Schallenberg war von Anfang an dabei und erinnert sich noch gut an die durchaus schwierigen Anfänge. Wie sollte man namhafte Künstler für ein so brisantes Thema gewinnen und in den gerade mal gut 8.000 Einwohner zählenden Ortsteil Stommeln einladen können, von dem die Kunstszene kaum jemals gehört haben dürfte? „Der Künstler Wilhelm Gies entwickelte damals das Konzept mit Gerhard Dornseifer, Kunst an einem Ort einmal im Jahr in einem Raum zu zeigen, um so die Beschäftigung mit dem genius loci und eine öffentliche Auseinandersetzung zu bewirken. Er verwies auf renommierte Künstler wie Richard Serra und Jannis Kounellis, die durch Vermittlung von Katharina Winnekes tatsächlich nach Stommeln kamen und die ersten Werke schufen“, erzählt Schallenberg.
Die Kunstprojekte Synagoge Stommeln fanden vom ersten Tag an ein großes Echo nicht nur in der Kunstwelt, sondern auch in den Medien. Der schnelle Erfolg lag sicher in der Einzigartigkeit des Ortes begründet; darüber hinaus in der überzeugenden Ernsthaftigkeit, mit der die Installationen von den Künstlern entwickelt wurden, sowie in der respektvollen Achtsamkeit, mit der den Künstlern von Beginn an begegnet wurde. So rechnet Angelika Schallenberg jeweils mit viel Zeitvorlauf bei den Künstleranfragen, wohlwissend, dass die Ausstellungskalender der Künstler über Jahre hinweg ausgebucht sind. Zudem sucht sie sehr behutsam die jeweils künstlerischen Positionen aus, immer im Hinblick auf das schon Gezeigte und die für die nächsten Jahre geplanten Werke.
Für weltweites Aufsehen sorgte 2006 die Intervention von Santiago Sierra, bei der er Autoabgase in das ehemalige jüdische Gotteshaus leitete und die Besucher mit Gasmasken hineingehen ließ. Niemals hätten sie damals damit gerechnet, dass die Leute das Haus wirklich betreten würden, sagt Angelika Schallenberg und betont, wie sehr Sierra mit der daraufhin heftigen Empörung und kritischen Reaktion der Öffentlichkeit noch heute hadert, war seine Intention doch eine gänzlich andere. Einmal mehr offenbarte sich bei dieser Arbeit, wie sensibel und schwierig die künstlerische Thematisierung sein kann und wie wichtig es ist, die Besucher und ihre potenziellen Reaktionen mit einzubeziehen. Schließlich will man nicht provozieren, sondern zum Nachdenken anregen. Somit trägt jeder Künstler jedes Jahr aufs Neue zu dem Kunstprojekt einen neuen Aspekt bei.
Lediglich ein Kunstwerk wirkt permanent am Ort: die Klanginstallation des 2009 verstorbenen Soundkünstlers Max Neuhaus. Mit seinem 2007 entstandenen „Time Piece“ auf dem nahegelegenen Ortsplatz erklingt jeden Tag ein dumpfer Brummton im strengen Intervall, erst leise und dann immer lauter, bis er plötzlich abbricht. Die Einteilung entspricht der Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in zwölf rituellen Stunden, Zmanim, wie das jüdische Gesetz es vorsieht. Auf diese Weise drückt die Klang-Installation von Neuhaus Respekt vor den Opfern der Schoah aus. Subtil, zumeist leise, manchmal auch etwas lauter und niemals effektvoll haben die Kunstprojekte Stommeln im Laufe der letzten 23 Jahre einen festen Platz in der Kunstgeschichte eingenommen und werden auch in Zukunft für ein lebendiges Gedenken sorgen – die Synagoge ist somit kein Denkmal im Sinne eines still zu bestaunenden Gebäudes, sondern eine Begegnungsstätte mit dem hohen Anspruch, Erinnerung in dem Bewusstsein eines sich stetig wandelnden Prozesses zu vermitteln.
Nach den eher fragwürdig passiv wirkenden Skulpturen „Pair“ des Bildhauser Tony Gragg im Ausstellungsjahr 2015 wird 2016 die Reihe in der Synagoge Stommeln mit dem Projekt „Those that are near. Those that are far.“ von Walid Raad und SITU Studio fortgesetzt.
Weitere Informationen: www.synagoge-stommeln.de
Der Beitrag erschien im Geschäftsbericht der Kreissparkasse Köln 2014.